Unternehmungsbewertung

Unternehmungsbewertung
von Professor Dr. Wolfgang Ballwieser
I. Begriff und Aufgaben
Unternehmungsbewertung ist die Bewertung einer Unternehmung als Ganzes zur Bestimmung des  Unternehmenswertes. Unternehmungsbewertung bereitet besondere Probleme, weil Marktpreise für ganze Unternehmen entweder vollständig fehlen oder bei zufälligem Vorliegen auf ihren Aussagegehalt hin überprüft werden müssen. Wertdefinition und Wertermittlungsverfahren müssen zweckgerecht sein. Vernachlässigt man Bewertungen für steuerliche Zwecke, liegen die wichtigsten Funktionen einer Unternehmungsbewertung darin, zur eigenen Entscheidungsvorbereitung oder Beratung eines Dritten einen Grenzpreis oder  Entscheidungswert und zur Auseinandersetzung oder Vermittlung streitender Parteien einen Schiedspreis oder  Arbitriumwert zu berechnen. Weitere Funktionen, wie die Festlegung von Emissionskursen bei Börsengängen, sind denkbar; sie sind jedoch mit den bereits genannten Aufgaben verbunden.
Der Grenzpreis (Entscheidungswert) stellt die gerade noch akzeptable Preisgrenze für den Käufer oder Verkäufer einer Unternehmung dar und wird durch Alternativenvergleich nach dem Opportunitätskostenprinzip ermittelt. Er ist der potenzielle Preis, der den ökonomischen Stand des zukünftigen oder gegenwärtigen Eigentümers nicht verändert. Da Schadensersatzleistungen den Geschädigten so stellen sollen, wie er gestanden hätte, wenn das Schadenereignis nicht eingetreten wäre, begründet der Grenzpreis auch Schadensersatzforderungen.
Schiedspreise müssen zwischen den bekannten oder vermuteten Grenzpreisen der Kontrahenten liegen, die sich auseinandersetzen und um eine Einigung bemühen. Zentral ist auch hier die Ermittlung zweckadäquater Grenzpreise.
II. Ermittlung von Bewertungsgrundlagen
Da Grenzpreise potenzielle Preise darstellen, die den ökonomischen Stand von zukünftigen oder gegenwärtigen Eigentümern unberührt lassen, muss dieser gemessen werden. Dies geschieht zweckmäßigerweise mithilfe der erwarteten zukünftigen Entnahmen, die auf das Eigentum am Unternehmen zurückgehen. Die zukünftigen Entnahmen sind dispositionsabhängig und unsicher. Zweckgerechte Bewertungskalküle sollten deshalb die Dispositionsabhängigkeit und Unsicherheit der mehrperiodigen Entnahmen sowohl bei der Grenzpreisermittlung als auch bei der darauf aufbauenden Ermittlung von fairen Einigungspreisen erfassen.
Um die maßgeblichen, der Bewertung zugrunde zu legenden Entnahmen zu ermitteln, ist aus der Sicht von rationalen Entscheidern ein Optimierungskalkül notwendig. Dieser muss theoretisch auf einem Unternehmensgesamtmodell aufbauen und die bei der prognostizierten Entwicklung der Umwelt und den geplanten Aktionen der Unternehmensleitung bestmöglichen Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Entnahmen im Zeitablauf zu berechnen erlauben. Dieser Optimierungskalkül begegnet den Schwierigkeiten, dass komplexe Unternehmensgesamtmodelle weitgehend fehlen, dass beachtliche Probleme bei der Prognose von zukünftigen Umweltbedingungen entstehen und dass selbst bei Erfüllung der beiden zuerst genannten Bedingungen brauchbare Optimierungskalküle kaum vorhanden sind. Dies zwingt Unternehmensbewerter dazu, Komplexität zu reduzieren, v.a. von nicht optimalen Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Entnahmen im Zeitablauf auszugehen.
Es ist praktisch üblich, zur Schätzung zukünftiger Entnahmen mit der Analyse zurückliegender Gewinn- und Verlustrechnungen der letzten drei bis fünf Jahre zu beginnen, um die maßgeblichen Faktoren der vergangenen Entnahmen herauszuarbeiten. Hierzu sind die Zugriffsmöglichkeiten auf diese Unterlagen Voraussetzung, und Korrekturen handels- oder steuerrechtlicher Gewinn- und Verlustrechnungen sind für den Bewertungszweck nötig. Die aus einer solchen Vergangenheitsanalyse zu gewinnenden Informationen sind unerlässlich. Sie dürfen aber nicht überschätzt werden, denn Unternehmen werden oft veräußert oder Minderheitseigentümer werden oft abgefunden, weil die Zukunft andere Umweltbedingungen erwarten lässt als die Vergangenheit bewies oder weil die Unternehmenspläne stark geändert werden sollen. Die Extrapolation von Vergangenheitsdaten in die Zukunft wird unter diesen Umständen fragwürdig.
Der Vergangenheitsanalyse sollte deshalb eine Lageanalyse und Strategieentwicklung folgen. Die Lageanalyse dient der Aufnahme des Istzustandes der Unternehmung, z.B. mithilfe von Portfolio-Matrizen. Die derart gewonnenen Informationen sind qualitativer Art. Sie erlauben noch keine konkrete Aussage über die Höhe und Unsicherheitsstruktur der Entnahmen aus dem Unternehmen in die Zukunft. Anhaltspunkte hierfür könnten unter der Prämisse unveränderter Fortführung der Unternehmung durch eine Letztjahresgewinnermittlung und eine Trägheitprojektion gewonnen werden. Der Letztjahresgwinn ist der derjenige entnahmefähige Betrag, der sich in Zukunft durchschnittlich ergeben würde, wenn von den Letztjahresbedingungen auch weiterhin ausgegangen werden könnte. Die Trägheitsprojektion soll die Schätzung der Entnahmen darstellen, die sich ergeben, wenn die Eigentümer bei sich ändernden Umweltbedingungen dieselbe Politik wie in der Vergangenheit verfolgen. Beide Analysearten führen zu wichtigen Referenzergebnissen für die eigentlich interessierenden Entnahmeschätzungen, die auf der Entwicklung einer veränderten (nicht notwendigerweise optimierten) Strategie basieren. Sie zeigen, welche Entnahmeveränderungen durch geplante Strategieänderungen ausgelöst werden sollen, und erlauben es, im Unternehmen geplante Entnahmen grob auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen.
Fehlt der Zugriff auf unternehmensinterne Daten, kann die Vergangenheitsanalyse nur deutlich grober erfolgen. Kenntnisse des Marktes und der Marktstellung des Unternehmens sind unumgänglich.
III. Bewertungsmethode
Zur Ermittlung von Grenzpreisen oder Schiedswerten ist die Verwendung der Substanzwertmethode ( Reproduktionswert) ungeeignet. Er bestimmt sich nach den Wiederbeschaffungskosten der betriebsnotwendigen Vermögensgegenstände, den Einzelveräußerungspreisen der nichtbetriebsnotwendigen Vermögensgegenstände und wird um die Schulden vermindert. Die in den Substanzwert eingehenden Wiederbeschaffungswerte von einzelverkehrsfähigen Wirtschaftsgütern sagen nichts Zuverlässiges über deren Beiträge zu den zukünftigen Entnahmen aus. Der Substanz- bzw. Reproduktionswert taugt auch nicht zur Berücksichtigung der Unsicherheit. Statt der Einzelbewertung ist eine Gesamtbewertung mithilfe eines Kapitalwertkalküls vorzunehmen. Hiermit wird der Wert des betriebsnotwendigen Vermögens bestimmt; er ist um den per Einzelbewertung ermittelten Wert des nichtbetriebsnotwendigen Vermögens zu ergänzen. Der Kapitalwertkalkül heißt im deutschen Ertragswertmethode, im angelsächsischen Discounted-Cashflow-Methode.
Bei der Berechnung des  Ertragswerts besteht ein wichtiges Problem in der Ermittlung des zweckgerechten Kalkulationszinsfußes. Hat man die Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Entnahmen prognostiziert, sollte man sie aus theoretischer Sicht zu Sicherheitsäquivalenten aggregieren und diese mit dem landesüblichen Zinsfuß diskontieren. Das Sicherheitsäquivalent ist der Entnahmebetrag, der einer Wahrscheinlichkeitsverteilung nutzenmäßig gleichgeschätzt wird. Für risikoscheue Bewerter liegt es unter dem  Erwartungswert der Entnahmen. Da man zur genauen Ermittlung von Sicherheitsäquivalenten auf Risikonutzenfunktionen zurückgreifen muss, die unbekannt sind, werden in der Praxis regelmäßig Risikozuschläge zum landesüblichen Zinsfuß addiert, und mit diesem erhöhten Zinsfuß wird der Erwartungswert der Entnahmen diskontiert. Die Risikozuschlagsmethode ist umstritten. Die neuere Literatur zeigt aber, wie man begründbare von unbegründbaren Zuschlägen durch eine generelle Orientierung an Sicherheitsäquivalenten auch ohne genaue Kenntnis von Risikonutzenfunktionen unterscheiden kann. V.a. bei international tätigen Unternehmen wird neben der Ertragswertmethode der Discounted Cashflow verwendet. Beim so genannten Nettoansatz dieses Verfahrens wird analog dem Ertragswertverfahren gerechnet, der Risikozuschlag auf den Zinsfuß jedoch nach dem Capital Asset Pricing Model (CAPM) bestimmt. Beim so genannten Bruttoansatz wird erst der Wert von Eigen- und Fremdkapital insgesamt berechnet, bevor sich durch Substraktion des Marktwertes des Fremdkapitals der Eigentümerwert ergibt. Zum Bruttoansatz zählen das Adjusted-Present-Value-Verfahren, die Free-Cashflow-Methode und die Total-Cashflow-Methode. Beim Adjusted-Present-Value-Ansatz werden zuerst die fiktiven Entnahmen eines rein eigenfinanzierten Unternehmens diskontiert. Auf den daraus resultierenden Barwert wird der Barwert der Steuervorteile aufgrund der tatsächlich vorliegenden Verschuldung addiert. Die Unternehmungsbewertung wird deshalb komponentenweise bestimmt. Ein wesentliches Problem des Verfahrens ist die Bestimmung der Kapitalkosten eines rein eigenfinanzierten Unternehmens, weil diese in praxi nicht beobachtet werden können. Die Free-Cashflow-Methode und der Total-Cashflow-Ansatz verwenden hingegen den gewogenen durchschnittlichen Kapitalkostensatz als Diskontierungszins. Beide Verfahren gehen ebenfalls von einem fiktiv rein eigenfinanzierten Unternehmen aus, behandeln aber den Steuervorteil aufgrund der Verschuldung unterschiedlich. Das führt zu verschiedenen Definitionen der Cashflows und der gewogenen durchschnittlichen Kapitalkosten. Unter bestimmten Bedingungen lassen sich rechentechnisch alle nach den verschiedenen Verfahren errechneten Werte ineinander überführen.
IV. Nachprüfbarkeit des Bewertungsergebnisses
Wegen der mit der Ertragswertmethode verbundenen Subjektivismen bei der Prognose der Entnahmen und der Festlegung des Diskontierungssatzes hat man früher Zuflucht bei vermeintlich objektiven Verfahren, wie der Substanzwertmethode, gesucht. Übersehen wurde dabei, dass die Objektivierung im Sinn einer Nachprüfbarkeit des Bewertungsergebnisses durch sachverständige Dritte dort ebenfalls nur teilweise gegeben war und dass sie zur Lasten der ökonomischen Brauchbarkeit des Ergebnisses für die beschriebenen Aufgaben ging. Die Literatur hat mittlerweile Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung entwickelt, die ähnlich wie Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung Verhaltenskriterien für Gutachter darstellen, die ihre Sorgfaltspflicht beachten, und die darüber hinaus dem Erfordernis der Nachprüfbarkeit des Bewertungsergebnisses auch bei der Ertragswertmethode, soweit es nötig ist, genügen.
Literatur: Ballwieser, W./ Coenenberg, A.G./ Schultze, W., Unternehmensbewertung, erfolgsorientierte. In: Ballwieser, W./ Coenenberg, A.G./ Wysocki, K.v. (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechnungslegung und Prüfung, 3. Aufl., Stuttgart 2002, Sp. 2412–2432; Ballwieser, W., Unternehmensbewertung und Komplexitätsreduktion, 3. Aufl., Wiesbaden 1990; Copeland, T./ Koller, T./ Murrin, J., Unternehmenswert. 3. Aufl., Frankfurt a.M. 2002; Drukarczyk, J., Unternehmensbewertung, 4. Aufl., München 2003; Hachmeister, D., Der Discounted Cash-flow als Maß der Unternehmenswertsteigerung, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 2000; Mandl, G./ Rabel, K., Unternehmensbewertung. Wien, Frankfurt a.M. 1997; Moxter, A., Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung, 2. Aufl., Wiesbaden 1983; Sieben, G., Der Substanzwert der Unternehmung, Wiesbaden 1963; Schultze, W., Methoden der Unternehmensbewertung. 2. Aufl., Düsseldorf 2003.

Lexikon der Economics. 2013.

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